Astrologie Heute Nr. 217 (Juni 2022)
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Astrologie Heute Nr. 217
Juni 2022

Inhaltsverzeichnis
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Astro-logische Merk-Würdigkeiten

Die Insel der Bücher

von Barbara Egert

Bevor man sich für jenes einzigartige Buch entscheidet, das man auf eine einsame Insel mitnehmen würde, um es endlich in aller Ruhe zu lesen, sollte man sicher sein, dass dieses Buch die Strapazen der Reise überhaupt wert ist. Zumal man seit Blaise Pascal weiss, dass Probleme immer dann entstehen, wenn man sein eigenes Zimmer verlässt. Welch ein Aufwand wegen eines Buches, das man zuhause viel entspannter lesen könnte. Und was wird man vorfinden im Paradies seiner Träume? Berge von Lieblingsbüchern, bewacht von überforderten Papiertigern, die vergeblich Milben und Motten verscheuchen. Der Brotkäfer «Stegobium paniceum», eigentlich auf trockene Lebensmittel spezialisiert, pulverisiert gerade meine «Hochsensibilität im Horoskop». Gleich nebenan Proust auf japanisch, Faust Teil 2, Robinson Crusoe natürlich und jede Menge Kochbücher, um sich vom Lesen zu erholen.

Für jeden Löwen, überhaupt die Feuer-Zeichen, wäre diese Insel ein Albtraum: Keine Bewunderer, kein Applaus – darauf kann man verzichten. Und worauf kann man noch verzichten? Der sehr saturnische Diogenes von Sinope verzichtete sogar aufs eigene Zimmer und wohnte in einer Tonne. Und er brauchte auch keine Bücher, um sich von anderen, Plato etwa, die Welt erklären zu lassen, da die sich jedem erschliesst, der sich ernsthaft bemüht. Ein Leben aber, ohne darüber nachzudenken, was die Welt im Innersten zusammenhält, wäre für ihn unvorstellbar gewesen. Zugegeben, ein sehr extremes Prinzip, doch lässt es sich vielleicht noch überbieten? Aber ja, denkbar wäre doch, auch noch aufs Denken zu verzichten. Und wie soll das gelingen? Nun, ein sehr unterbelichteter Merkur meint, es genüge, die Welt nur geniessend wahrzunehmen, wozu ihm alle Stiere applaudieren. Also erübrigt sich auch die Insel. Und nicht nur die. Man öffnet die Sinne, nimmt wahr und staunt. Und ist nie mehr allein, denn viele sind ähnlicher Meinung.

Keinesfalls dürfe man auf die Insel verzichten, denn selbst wenn diese wie Atlantis nur eine Fiktion sei, spüre man doch ihren atmosphärischen Zauber. Ob Kreta oder Sylt, Inseln sind immer mehr als nur von Wasser umspülte geografische Fakten. Ohne diese neptunischen Sehnsuchtsorte können
sich Träumer, Künstler und Visionäre ein Leben nicht vorstellen. Jedes Ziel ausserhalb der üblichen Realität beflügelt ihre Fantasie und lässt sie zugleich danach süchtig werden. Sirenen betören nicht nur durch ihren Gesang, sondern mehr noch durch ihre Fähigkeit, alles auf Erden Geschehene zu wissen. Wem sie es offenbaren, den nehmen sie gefangen für immer und ewig. Zuviel wissen zu wollen, kann also böse enden.

Nur wer vom Olymp herab ebenso wohlwollend wie amüsiert das Gerangel der Welt betrachtet und trotz allem an das Gute im Menschen glaubt, wird auf die Idee kommen, eine Insel der Bücher zu erschaffen. Da er sie seiner Tochter Venus anvertraut, wird es dort vermutlich mehr Liebesromane als philosophische Abhandlungen geben. Doch Merkur ist für die Ausleihe zuständig und vermag selbst einer typischen Blondine Kants «Kritik der reinen Vernunft» als dermassen attraktiv zu beschreiben, dass sie sich bald schon ein Leben ohne «Sein und Zeit» nicht mehr vorstellen kann. Jupiter rät zu mehr Schein als Sein, zu Anekdoten und Zitaten also, die jedem das Gefühl vermitteln, bald schon Goethe für Anfänger verstehen zu können.

Dank marsischer Energie expandiert das Projekt und selbst auf Plutos Toteninsel wird eine Dependenz mit dem Namen «Stirb und Werde» errichtet. Man liest Kafkas «Strafkolonie» und Machiavelli, denn wer die Macht hat, hat auch Angst, sie zu verlieren. Doch warum sollte nicht, wer mehr vom Mond bestimmt ist, in lauen Nächten lieber Haikus lesen? – Für Uranus allerdings sind irdische Inseln antiquiert, denn blitzartige Erleuchtung ereignet sich überall. Also auf zu den Sternen! Und was nimmt man mit? Vorbei sind die Zeiten des geduldigen Papiers. Wer den Menschen das Feuer brachte, wird ihnen auch verraten, wie man digitales Wissen transferiert: Anders als bisher, vielleicht per Chip, wer weiss das schon.

Jupiters Vision einer Insel der Bücher floriert. Noch, denn schon wird mehr gegessen als gelesen. Die Fülle ist sich selbst im Weg, gibt Saturn zu bedenken und empfiehlt, sich auf ein einziges Buch zu konzentrieren. Und welches? Egal. Hauptsache man liest es gründlich. Und danach? Beginnt man von vorn …


Barbara Egert, geprüfte Astrologin DAV, jahrzehntelange Astrologieerfahrung; Bücher: «Astro-logische Merkwürdigkeiten – Kolumnen» (2017, nur bei Amazon erhältlich), «Wenn die Kindheit Schatten wirft: Beziehungen, Hochsensibilität, Narzissmus» (2014), «Hochsensibilität im Horoskop» (2012), «Krisen im Horoskop erkennen» (2011), «Kindheitserfahrungen im Horoskop» (2009); ständige Mitarbeiterin von ASTROLOGIE HEUTE, E-Mail: Barbara Egert