Astro-logische Merk-Würdigkeiten
Die Wahrheit! – Nichts als die Wahrheit?
von Barbara Egert
Der rückläufige Merkur ging gerade gemächlich über meinen Mars, und mein Pluto war noch im Transit-Orbis zu meinem Mond, da muss mich der Teufel geritten haben, denn ich schickte einer alten Freundin eine Mail, in der ich ihr endlich all das sagte, was ich ihr schon immer hatte sagen wollen: Die Wahrheit! Und zwar die ganze Wahrheit, also die über Gott und die Welt im Allgemeinen, und die über uns beide im Besonderen. Klare Verhältnisse, meinte ich, seien nun mal wichtiger als der Austausch von Nettigkeiten, die im Laufe der Zeit unsere Beziehung immer mehr überwuchert hatten.
Es ist noch nicht sehr lange her, und mich irritiert nun doch, dass sie noch keine Zeit gefunden haben sollte, mir zu antworten. Schweigen – passive Aggression? Ich denke Gespenster, seit ich den Artikel über dieses Thema geschrieben habe. Na ja, sie hat den Mars im achten Haus, und Pluto, dessen Herrscher, steht im elften – da gehöre ich dann hin als ihre Freundin. Aber Gleichgesinnte? Ich weiss auch, dass sie sehr beschäftigt ist. Wahrscheinlich erholt sie sich gerade in einem Schweige-Retreat (inklusive Mail-Verbot) von einem der stressigen Kongresse, die sie meint, frequentieren zu müssen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Oder aber meine Mail hat sich, ihre Entrüstung vorausahnend, vorsichtshalber in ihrem Spam-Ordner versteckt. Vorsichtshalber? So schwer es mir fällt, daran zu glauben, dämmert mir allmählich, dass meine allzu aufrichtigen Zeilen sie gekränkt haben könnten. Das habe ich davon, wenn ich die Sterne immer erst dann befrage, wenn es bereits zu spät ist, um Situationen wie diese zu vermeiden. Auch wäre es besser gewesen, meinen vorwitzigen Mars zu zügeln. Hätte es mir denn gefallen, aus heiterem Himmel mit der Wahrheit, mit nichts als der Wahrheit, über mich konfrontiert zu werden?
Seit die noch junge Ingeborg Bachmann anlässlich der Überreichung eines Hörspielpreises verkündete, die Wahrheit sei dem Menschen zumutbar, freundet man sich leichter mit dem Gedanken an, Rücksicht sei nicht immer das Gebot der Stunde. Doch was sagt man nicht alles, wenn man jung ist und einen bleibenden Eindruck hinterlassen möchte. Später in Rom, als es ihr schlecht ging, wäre ihr da die Wahrheit, die ungeschminkte, noch zumutbar gewesen? Es gibt Zitate, die so suggestiv sind, dass man bedenkenlos alles glaubt, was sie verkünden, und was sich gut oder klug anhört. Das mit der Zumutbarkeit der Wahrheit ist eines von ihnen. Indem ich es wage, dieses infrage zu stellen, fühle ich mich wie von Zauberhand umringt von anderen Weisheiten, die mir verkünden wollen, was sie denn über die Wahrheit denken. André Malraux etwa ist der Meinung: «Die Wahrheit eines Menschen liegt hauptsächlich in dem, was er verschweigt.» Ich hätte wohl besser auf ihn hören sollen, als ich meine Mail verfasste.
Immer noch fällt es mir schwer, anzunehmen, dass nicht etwa ein Retreat (das würde gut zu ihrer Merkur/Saturn-Konjunktion passen) der Grund für das Schweigen ist, sondern meine Mail bzw. mein Mars, der mich überredete, ihr endlich meine Wahrheit über unser Verhältnis mitzuteilen. Aber vielleicht sinnt sie ja bereits auf Rache und brütet aus, was sie mir schon immer mal sagen wollte. Wie würde ich in so einem Fall reagieren? Mit eisigem Schweigen wie sie? Wie Steinbock Christian reagieren würde, weiss ich genau: Unliebsame Wahrheiten werden einfach ignoriert. An seinem Saturn perlt alles ab. Ganz anders meine liebe Fische-Freundin, die Arthur Schnitzler zitieren würde: «Es fliessen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends. Wir wissen nichts von anderen, nichts von uns. Wir spielen immer, wer es weiss, ist klug.»
Jeder reagiert anders, wenn es darum geht, wahrhaftig zu sein. Doch astrologisch lässt sich leicht nachvollziehen, wie jemand mit der Wahrheit umgeht – ob er sie marktschreierisch unter die Leute bringt, sie verdreht, verschweigt oder verschleiert, und ob er überhaupt selbst überzeugt ist von dem, was er für wahr hält oder nur so tut, als ob. So unterschiedlich die Reaktionen auch sein mögen – jeder aber wird Goethe zustimmen: «Die Wahrheit widerspricht unserer Natur, der Irrtum nicht, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: Die Wahrheit fordert, dass wir uns für beschränkt erkennen sollen, der Irrtum schmeichelt uns, wir seien auf eine oder die andere Weise unbegrenzt.»
Übrigens erreicht mich soeben die lang erwartete Mail meiner Freundin: «Wie recht du hattest, unser Verhältnis in Frage zu stellen. Nur so kann es lebendig bleiben. Wir werden es neu beleben.» Mein Uranus ruft: Hurra!
Barbara Egert, geprüfte Astrologin DAV, jahrzehntelange Astrologieerfahrung; Bücher: «Astro-logische Merkwürdigkeiten – Kolumnen» (2017, nur bei Amazon erhältlich), «Wenn die Kindheit Schatten wirft: Beziehungen, Hochsensibilität, Narzissmus» (2014), «Hochsensibilität im Horoskop» (2012), «Krisen im Horoskop erkennen» (2011), «Kindheitserfahrungen im Horoskop» (2009); ständige Mitarbeiterin von ASTROLOGIE HEUTE, E-Mail: Barbara Egert