Astrologie Heute Nr. 120 (April 2006)
Bild vergrössern
Astrologie Heute Nr. 120
April 2006

Inhaltsverzeichnis
Heft Nr. 120 bestellen

Auf dem Weg zurück zur Gottheit
 
Eine Rezeptionsgeschichte Liliths in der Moderne
 
von André Kienzle
 

 
Die Göttin Lilith ist so alt wie die Menschheit. – Das ist die gängige Optik. Tatsache ist indessen, dass sich unser modernes Lilith-Bild erst vor rund 30 Jahren gegen ältere Lilith-Motive des späten 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat und dass Lilith vor 1800 verschollen war. Selbst im europäischen Judentum, das der Lilith im Mittelalter mit dem «Sohar» und dem «Alphabet des Ben Sira» schriftliche Denkmäler gesetzt hatte, war Lilith um 1800 nur noch aus der mündlichen Überlieferung bekannt.
 
Allenthalben hört man, wir sollten Lilith entdämonisieren, sie integrieren und uns mit ihr versöhnen. Das ist gar nicht so einfach bei einer schillernden Persönlichkeit wie Lilith, welcher höchst widersprüchliche und teilweise inkompatible Eigenschaften zugeordnet werden. Der vorliegende Artikel legt dar, dass diese Motive in unserem Bild von Lilith zwei unterschiedliche historische Wurzeln haben – Wurzeln, die nach historischen Massstäben erstaunlich jung sind.
 
Diese Rezeptionsgeschichte Liliths zeigt, wie die moderne Geschichte Liliths mit der Walpurgisnacht-Szene in Goethes «Faust» (1807) beginnt. Lilith-Motive gehören in den Kontext der doppelten Sexualmoral, dies beschreibt der Autor am Beispiel des Viktorianischen Zeitalters. Diese «viktorianische Lilith», eine teuflische Gestalt, unterscheidet sich wesentlich von einem zweiten Motiv, das im Verlauf des 20. Jahrhunderts zur Geltung kommt und das man als «neokabbalistische Lilith» bezeichnen kann. Die religionshistorische Korrektur – das heisst die Rückbesinnung auf die sumerisch-babylonisch-kabbalistische Lilith – führt erst seit den 1960er-Jahren zur Überwindung des viktorianischen und zur Durchsetzung des neokabbalistischen Lilith-Motivs. Mit den Werken von Joëlle de Gravelaine etablierte sich Lilith (oder der «Schwarze Mond») ab 1969 endgültig auch als astrologische Grösse (sie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts durch Sepharial in die Astrologie eingeführt), zugleich auch die Konzeption, dass es sich dabei nicht um ein materielles Objekt, sondern um einen astronomisch berechneten Punkt handelt.
 
 
Hinweis: Beachten Sie bitte auch den Artikel «Verliebt, verdrängt, verteufelt. Der Bann der Lilith in Liebe und Sexualität – und Wege, damit umzugehen» von Sabina Wolf in diesem Heft.

André Kienzle-Wolf, promovierter Historiker; zwölf Jahre Wirtschaftsjournalist; seit 2003 als Medien- und Kommunikationsspezialist tätig.