Astrologie Heute Nr. 215 (Februar 2022)
Bild vergrössern
Astrologie Heute Nr. 215
Februar 2022

Inhaltsverzeichnis
Heft Nr. 215 bestellen

Astro-logische Merk-Würdigkeiten

Glanz und Elend der Listen

von Barbara Egert

Wenn man es partout darauf anlegt, sein Selbstbewusstsein zu ruinieren, wird einem das mit einer Liste all seiner Fehler und Schwächen, die man wie ein Mantra vor sich hin murmelt, garantiert gelingen. Wer also schon in jungen Jahren darunter leidet, dürr statt schlank und rabenschwarz statt blondgelockt zu sein, sich für zu gross, zu klein, zu dumm, zu dick hält, braucht später nur seine Liste durch neu hinzukommende Schwachstellen zu ergänzen. Die hören zum Glück nie auf: Von Jahr zu Jahr entdeckt man weitere Mängel, Mankos und Marotten. Und nicht nur bei sich selbst. Da es zum Glück anderen ebenso geht, kann man gemeinsam über sein Schicksal klagen. Ein Thema mit unzähligen Variationen: Vom Stossseufzer über die generelle Ungerechtigkeit des Lebens bis zum Lamento über unsensible Eltern, schreckliche Geschwister und unmögliche Chefs ist alles nicht nur erlaubt, sondern höchst willkommen.

Listen sind etwas Wunderbares, weil sie uns vor dem Vergessen bewahren. Angenommen, der morgendliche Blick in den Spiegel gibt einem zu verstehen, man sähe eigentlich ganz passabel aus, dann kann man in seiner Liste unter Falten nachschauen. Schon kann man weiterklagen und sich auf Saturn berufen, der wegen seiner notorischen Gründlichkeit natürlich besonders verdächtig ist. Doch dessen Interesse gilt eher der Bestandsaufnahme. Wenn jemand etwa voller Hingabe einen Klagegesang intoniert, in dem es um begründete Eifersucht geht, die zu erleiden er niemandem wünsche, dann wird Saturn das unter Nummer Soundso seiner Leidenschafts-Liste verbuchen. Was nummeriert ist, meint er, sei definitiv vom Tisch. Offenbare aber nichts vom wahren Wesen der Eifersucht, widerspricht Merkur. Venus verweist auf die berühmte Registerarie, in der Leporello versucht, Elvira zu trösten, indem er eine Liste mit Don Giovannis Liebschaften entrollt: «Aber in Spanien schon tausend und drei.» Pluto hält das für masslos übertrieben und gibt zu bedenken, Eroberungen seien eigentlich Passionen, also etwas, das der Erobernde erleidet. Der Verführer als Verführter? Seltsame Logik!

So hilfreich Listen tagsüber sind, nachts verlieren sie ihre Macht. Angenommen, das wache Bewusstsein wird müder und müder, schläft schliesslich ein und hat einen Traum, in dem man nicht nur unwiderstehlich aussieht, sondern auch noch so klug ist, wie man es gerne den ganzen Tag über wäre. Doch kaum wird man wach, verfliegt die gute Laune, und alles ist wie immer. Sollte jemand, neptunisch verblendet, einem dann einreden wollen, wie klug man sei, wie nett man aussähe, könnte man ihm mit der Liste aller Fehler und Schwächen genau das Gegenteil beweisen.

Wer meint, ohne Klagen nicht leben zu können, der braucht nur nach Unheil verheissenden Transiten zu suchen. Wunder über Wunder, er wird sie finden, und zwar in solcher Hülle und Fülle, dass er ihrer nur Herr wird, indem er sie in einer Liste verewigt, die er ständig erweitert. Irgendwann wird er, an seine Sorgen gefesselt, sich nur noch im Kreis drehen. So wunderbar Listen sind, um sich zu erinnern, so schrecklich sind sie, wenn man vergessen will.

Hat man genug von den Listen seiner Fehler, zerreisst man sie einfach und wertet sich auf. Aber wie? Ganz einfach, indem man «Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen» (Bach-Kantate Werkverzeichnis 12) durch «Lachen, Lächeln, Schmunzeln, Strahlen» ersetzt. Überdies haben Forscher herausgefunden, das Leid anderer entlaste die eigene Seele, und sich mit anderen zu vergleichen, denen es noch schlechter geht, diene nicht nur dem Wohlbefinden, sondern beuge auch gesundheitlichen Problemen vor.

Zeitweilig mag das aufwertend wirken, das Problem der eigenen Wertschätzung lässt sich so aber nicht beheben. Und wie könnte das gelingen? Indem man sich jener Eigenschaften seines Horoskops erinnert, die einen einmalig, einzigartig und unverwechselbar machen. Wer meint, eine Liste könne ihm helfen, seine Vorzüge nicht sofort wieder zu vergessen, der lege sich eine an. Wird man gefragt, wie es einem geht, wäre es ein guter Anfang voller Überzeugung zu antworten: «Ich kann nicht klagen», obwohl da immer noch ein leichtes Bedauern mitschwingt, «leider» nicht mehr klagen zu können. Immerhin, ein Anfang ist gemacht.


Barbara Egert, geprüfte Astrologin DAV, jahrzehntelange Astrologieerfahrung; Bücher: «Astro-logische Merkwürdigkeiten – Kolumnen» (2017, nur bei Amazon erhältlich), «Wenn die Kindheit Schatten wirft: Beziehungen, Hochsensibilität, Narzissmus» (2014), «Hochsensibilität im Horoskop» (2012), «Krisen im Horoskop erkennen» (2011), «Kindheitserfahrungen im Horoskop» (2009); ständige Mitarbeiterin von ASTROLOGIE HEUTE, E-Mail: Barbara Egert